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Ehrenwerte Häuser
Eine Satire
Ehrenwerte Häuser
Es gibt sie tatsächlich: die ehrenwerten Häuser. Es sind eine Art von Wohneinrichtungen, in der sich eine ganz spezielle Form des Zusammenlebens entwickelt hat. Am ehesten vergleichbar sind sie mit Biosystemen, in denen auch die kleinste Störung zu unvorhersehbaren Folgen führen kann. Bevor ich an einem Beispiel erläutere, was passieren kann, wenn die ordentlichen Bewohner dieser Häuser versehentlich nicht passende Mieter als Mitbewohner zulassen, sollen erst einmal Kriterien genannt werden, wodurch sich diese Wohneinrichtungen auszeichnen.
Die wichtigsten Attribute, an denen man diese Art von Häusern erkennen kann sind Uniformität und Sterilität. So achtet der ordnungsliebende Nachbar stets auf die Einhaltung uniformer Gepflogenheiten bei seinen Mitbewohnern.
Als rex domi ist jener Teil der Bewohner eines Hauses zu zählen, der zu der Kaste der Wohnungseigentümer gehört. Dieser kann gegebenenfalls, wenn der Eigentümer nicht mit im Haus wohnt, durch einen Verwalter ersetzt werden.
Oberhalb des Bewußtseinshorizont des rex domi hat es keine Existenz zu geben. Schon allein die Ahnung, dass es über seine Vorstellungswelt hinaus noch etwas geben könnte, löst eine existentielle Unruhe in ihm aus. Es ist nur natürlich, dass er die Ursache seiner Existenzangst zu bekämpfen beginnt. Damit größere Erschütterungen in seiner Erfahrungswelt gar nicht erst entstehen, hat er sich das feine Messraster der Uniformität geschaffen. Hier hat im Allgemeinen der erste im Hause lebende Käufer von Wohneigentum die Standards festgelegt, auf deren Grundlage sämtliche Aktivitäten im Hause zu erfolgen haben. Zum Beispiel haben Namensschilder einen unschätzbaren Wert für die geistige Orientierung. In geregelter Größe, in schlichtem Schwarz oder Weiß mit weißen bzw. Maschinen gedruckten Schriftzügen dokumentieren sie dem Haus eine gewisse Anständigkeit und Ordnung. Dem Besucher wird damit unmissverständlich vor Augen geführt: dies ist ein anständiges Haus.
Den ersten Eindruck wird der potentielle Besucher bereits in der Phase der Annäherung bekommen, wenn die Uniformität der Fenster in sein Unbewusstes dringt. An der Haustür und den Briefkästen angelangt wird durch die Unilabelisierung jeder Keim nonkonformistischer Umtriebe erstickt, und er verfällt in eine stille Erfurchtshaltung. Seine Bereitschaft zur Unterordnung signalisiert er am Fußabtreter, der mit großen
Lettern die Aufschrift
trägt. Damit wird höflich und schlicht die alte irische Rausschmissformel, mit der nach der Sperrstunde im Pub die letzten hartnäckigen Gäste entfernt werden:
"Es ist schön, dass Du gekommen bist, viel besser ist es aber, wenn Du jetzt wieder gehst."
Es versteht sich von selbst, dass die Zahl der Besuche im Haus möglichst niedrig gehalten werden muss. Besucher alarmieren grundsätzlich die Hauseigentümer, die langjährigen Mieter, die Dauermieter und die Dauermieter Anwärter; sie signalisieren Anarchie. Sie müssen daher, so bald sie durch ihr zum Haus gerichteten Verhalten als potentielle Besucher identifiziert werden, strengstens observiert werden. Aus diesem Grunde sich die untersten Geschosse in der Regel vom Hauseigentümer oder von Dauermietern besetzt. Spätestens wenn der Eindringling durch die Haustüre einfällt, watet ihm bereits einer der Dauermieter entgegen, im nächsten Moment überrascht verharrend, ihn unverhohlen und verwundernd anblickend, wird er ihn in etwa fragen: "Zu wem wollen Sie." Diese Aufforderung zur Parole bleibt nicht ohne Eindruck. Zum Zeichen der Unterwürfigkeit beginnt der gutwillige Besucher das Ritual des Fußabtretens. Dieses führt er unabhängig von der jeweiligen Wetterlage aus. Selbst bei trockener Straße schlurft er jeden seiner sauberen Schuhsolen mindestens sechs Mal über die Borsten, um den Wächter gnädig zu stimmen. In der Folge kommt es sehr genau darauf an, was der Besucher antwortet. Die beste aller möglichen Antworten ist natürlich die Anmeldung als ein Freund des Hauseigentümers. Diese Gattung muss natürlich nicht weiter überprüft werden und im Allgemeinen lässt man ihn mit "erste Etage, Tür geradeaus" passieren.
Die Bedenklichste aller Möglichkeiten ist die Ankündigung, dass man einen Bewohner besuchen wolle, der zum Kreise der Verdächtigen Personen im Hause gehört. Wie wichtig diese Wachsamkeit der ordentlichen Hausbewohner ist, sei an einem Fall geschildert, an dem ich selbst peripher beteiligt war.
Dies ist die Geschichte des Daniel F., Künstler mit wechselnden Damenbekanntschaften. Er passte so ganz und gar
nicht in dieses ehrenwerte Haus in der Fliedergasse 12 B mit Garten.
Ich war seit unserer Schulzeit mit Daniel befreundet und habe ihn von Zeit zu Zeit in der Fliedergasse besucht.
Wenn ich auch heute glaube, dass ich seinerzeit Zeuge der sich anbahnenden Eskalation gewesen bin, so kenne ich
die eigentliche Katastrophe selbst nur aus den Polizeiakten und den Zeitungsberichten. Ich werde die Geschichte
Daniels daher so genau wie möglich aus seinen Erzählungen, meinen eigenen Erlebnissen und den offiziell bekannt
gewordenen Details zu rekonstruieren versuchen.
Es mögen nun schon 3 Jahre her sein, als ich Daniel zum letzten Mal in diesem Haus aufsuchte. Ich näherte mich der
Adresse Fliedergasse 12 B, diesem SechsFamilienhaus mit Garten. Die Belegung des Hauses verteilte sich auf:
Das Erdgeschoss, mit dem Hauseigentümer, das Obergeschoss mit einem Dauermieter mit Gartennutzung sowie zwei
Dauermieteranwärter ohne Gartennutzung und die Mansarde mit einem Dauermieteranwärter und dem Novizen
Daniel, der noch kein Jahr in diesem Hause wohnte.
Als Daniel sich seinerzeit um diese Wohnung beworben hatte, erfüllte er das Anforderungsfrofil des Hauses:
Bankangestellter mittleren Alters, verheiratet, keine Kinder, lebte in geordneten Verhältnissen. Zwei Monate später ist
dann Daniel F. ohne seine Frau in die Mansarde eingezogen. In den darauffolgenden Monaten beobachtete man
verschiedentliche Damenbesuche bei Daniel. Eines Tages, als Daniel am Morgen mit eine der Damen, die Daniel
zuweilen besuchten, die Treppe herunterkam, erwartete die Vermieterin ihn im Erdgeschoss mit der Frage, wann denn
seine Ehefrau einziehen würde.
"Gar nicht", antwortete er lapidar, "wir leben getrennt; entschuldigen Sie, wir haben es eilig." Ohne die Reaktion der
Vermieterin abzuwarten, drehte er ihr den Rücken zu und verließ mit seiner Damenbekanntschaft das Haus.
Von einem Augenzeugen weiß ich: #frau Serbhan war entrüstet." Als Vermieterin hatte sie wohl das Recht, so meinte
Sie, sich über die Situation ihrer Mieter ein Bild zu machen. Herr F. machte einen korrekten Eindruck, als er sich vor
zehn Monaten um diese Mansarde beworben hatte. Doch es schien, als ob Herr F. nicht der wäre, als welcher er sich
seinerzeit ausgegeben hatte. Man mußte ihn wohl im Auge behalten.
Man hatte ihn im Auge! Die Verhältnisse F."s erwiesen sich als äusserst unbefriedigend für die Hausgemeinschaft.
Das Folgende ist mir bei meinem letzten Besuch von der Dauermieterin mit Gartennutzung von der ersten Etage
berichtet worden.
Ich hatte das übliche Ritual des Fußabtretens unter den strengen Ausgen der Dauermieterin mit Gartennutzung
absolviert und antwortete auf ihre Frage:
"Zu wem wollen sie?" unbekümmert
"zu Daniel F." Bei diesen Worten bewölkte sich das Gesicht der Dauermieterin mit Gartennutzung.
"Sind sie einer seiner Künstlerfreunde?"
Meine Antwort schien die unheilschwangere Atmosphäre nicht zu beruhigen. Den nun folgenden Aufzählungen
sämtlicher Vergehen und Verbrechen gegen Hausgemeinschaft und -ordnung konnte ich Folgendes entnehmen:
Die Nachforschungen der Hausgemeinschaft haben ergeben, dass Daniel bereits am Tage seiner Bewerbung um
diese Mansarde seine Stellung als Bankangestellter gekündigt hatte und von seiner Noch-Ehefrau getrennt lebte.
Nach Beendigung seines Angestelltenverhältnisses lebte Daniel als freier Maler und Bildhauer. Als man Daniel
diesbezüglich zur Rede stellte, hatte er diesen Sachverhalt weder dementiert, noch bestätigt. In der Folgezeit
registrierte man bei ihm eine rege Besuchsfrequenz von zwielichtigen Gestalten, die das subjektive
Sicherheitsempfinden der ordnungsliebenden Hausbewohner stark beeinträchtigten. Nicht zu übersehen waren auch
die Besuche der wechselnden Damenbekanntschaften, deren unsittliche Eigenschaft für zwei besonders aufmerksame
Hausbewohnerinnen außer Zweifel stand, da sie Lustgeräusche eindeutig sexueller Natur vernommen hatten. Die
moralische Basis dieses Hauses war durch Daniel gefährdet zumal auch Kinder in diesem Haus lebten. Der Bericht
der Mieterin mit Gartennutzung ist durch den dazu gestoßenen Mieter ohne Gartennutzung von der ersten Etage in
allen wesentlichen Punkten bestätigt worden. Lediglich in der Zahl der Versäumnisse gegen die Flurreinigungspflicht
war man unterschiedlicher Auffassung. Als ich verunsichert die Treppe zu Daniels Mansarde hinaufging, konnte ich
mich des Eindruckes nicht erwehren, dass mich die Dauermieterin mit Gartennutzung und der Dauermieter ohne
Gartennutzung bereits in diese subversive Kategorie von Daniels Besuchern eingeordnet hatten.
Mein Freund Daniel, den ich eher als durch nichts zu erschütternden und ausgeglichenen Charakter kannte, machte
an diesem Tage einen nervösen Eindruck auf mich; er war allein. Als ich ihn auf die Philippika der Dauermieterin mit
Gartennutzung ansprach, winkte er nur ab.
"Ich weiß", sagte er entnervt und nahm einen Stapel Briefe von seinem Schreibtisch, die er mir reichte. Ich las zwei
oder drei; es waren Abmahnungen und Drohungen seiner Mitbewohner. Sogar der Dauermieter Anwärter von nebenan
hatte mit unterzeichnet. Ich überflog den Rest, und der letzte war eine durch den Anwalt des Vermieters zugesandte
fristlose Kündigung wegen ständiger und fortgesetzter Vergeben gegen die Hausordnung und Gefährdung der
sittlichen Moral. Dann folgte eine Aufzählung aller Vergehen, bei deren ordnungsgemäßer Durchführung Daniel ein
Fulltime-Vergeher sein musste.
"Da musst Du sofort Widerspruch einlegen", riet ich ihm.
"Habe ich schon längst veranlasst", sagte Daniel, "aber ich habe ein ungutes Gefühl."
"Das schultern wir nun mit ein paar Flaschen Wein", munterte ich Daniel auf und zeigte ihm die mitgebrachte Tasche,
die vier Flaschen Kalifornischen und Chilenischen Roten enthielt.
"Na dann, Ring frei", lachte Daniel.
Als wir im Schein der Kerzen die dritte Flasche, einen Kalifornischen Merlot, geöffnet hatten, zog Daniel amüsiert
einen Brief aus dem konzertierten Briefstapel.
"Lies den", sagte er und drückte mir den Brief in die Hand. Ich las den Brief ohne Namen:
""Herr F.: Wir machen das nicht länger mit. Wir können auch anders. Das beste, sie packen ihre Sachen und hauen ab.
Meine Frau und meine Kinder sind schon ganz krank. Die lass ich mir durch sie nicht kaputt machen. Entweder sie
ziehen aus oder sie werden mich kennenlernen. Ich habe Mittel von denen sie nur träumen. Wenn sie nicht auf mich
hören, wird es ihnen leid tun. Das ist keine Drohung, sondern nur ein gutgemeinter Rat.
Von einem, der es gut mit ihnen meint."
"Das ist ein richtiger Drohbrief", eröffnete ich Daniel.
"Ich weiß", lachte Daniel; "ich schlottere vor Angst. Zum Beweis leerte er das Glas in seiner demonstrativ zitternden
Hand.
"Damit ich in meiner Furcht nicht noch den guten Wein verschütte."
Wir lachten herzhaft, und den Rest der Nacht unterhielten wir uns über das ambivalente Verhältnis Harrry Hallers zu
ehrenwerten Häusern.
Es war bereits 8 Uhr am Morgen, als ich Daniel verließ. Ich schlief den ganzen Tag, und stand am frühen Abend auf,
um endlich an meinem seit Tagen vernachlässigten Roman weiter zu schreiben. Ich machte gute Fortschritte und legte
mich gegen 10 Uhr am nächsten Vormittag zu Bett. Als ich um vier Uhr aufwachte, hatte ich eine unbändige Lust auf
frisch gebrühten Kaffee und ein gutes Frühstück. Kurze Zeit später stand alles auf meinen Küchentisch bereit; zur
Vollendung des Vergnügens holte ich mir noch die Tageszeitung aus meinen Briefkasten. Auf der Titelseite stand ein
Bericht über Daniel. Diesem Artikel zufolge hatte sich die Katastrophe so abgespielt:
Am frühen Abend des vergangenen Tages ist Daniel mit einer Stofftasche die Hausflurtreppe herunter gekommen.
Vor seiner Wohnungstür erwartete ihn wohl der Vermieter bereits. Man konnte nicht ermitteln, ab noch ein verbaler
Streit vorausgegangen war. Fest steht, dass die Frau des Vermieters aus dem Korridor der Wohnung das Feuer
eröffnete. Daniel ergriff den Vermieter und nahm ihn mit seinem linken Arm in einen Würgegriff, nach dem er ihm ein
langes Schlachtmesser aus der Hand geschlagen hatte. Aus seiner Stofftasche zog er eine 45er und erledigte die
Vermieterin mit einem gezielten Schuss zwischen die Augen. Den Vermieter richtete er mit einem Genickschuss. Als
auf halber Treppe von der ersten Etage eine Handgranate herunterkugelte, verschanzte Daniel sich in die Wohnung
seiner toten Vermieter. Den halbwüchsigen Knaben, der mit seinem Holzgewehr und den Worten: " bumm, du bist tot"
auf ihn zielte beachtete er nicht, weil in diesem Moment die Handgranate vor der Vermieterwohnung detonierte und
die Tür aus den Angeln riss. Daniel rollte mit drei überschlägen aus der Wohnung und erschoss den Dauermieter mit
Gartennutzung und den Dauermieteranwärter von seiner Etage, die mit abgesägten Kleinkalibergewehren die Treppe
hinuterballerten. Daniel ist mit seiner Rolle aus der Vermieterwohnung kaum zur Ruhe gekommen, als auch schon die
Frau des toten Dauermieters mit Gartennutzung mit einer doppelten Luftrolle die 12 Stufen heruntersprang, und Daniel
mit dem SamuraiSchwert den linken Arm abtrennte. Doch gegen Daniels 45er hatte sie keine Chance.
Es war Totenstille, nur das "bumm, du bist tot" des halbwüchsigen Vollwaisen hallte hin und wieder durch den
qualmenden Hausflur. Daniel saß mit seinen pulsierend blutenden Armstumpf gegen die weißgetünchte Wand des
Hausflures gelehnt. Die 45er in seiner rechten Hand wurde ihm schwer. Bevor Daniel ausgeblutet in sich
zusammensackte, erschoss er mit seiner letzten Kugel den halbwüchsigen Hauseigentümerknaben, dessen
"bum, du bist tot" der Sterbende nicht mehr ertragen konnte.
Dieser Fall zeigt, dass man sich seine Mieter genauer anschauen sollte.
© Erich Romberg
Juli 1999
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