rau Charlotte ist eine einfache Frau, etwas rundlich-gemütlich; angenehm und gutmütig. Sie wäre wohl auch kaum jemandem aufgefallen, hätte sie nicht eines Tages einen jungen Mann mit nach Hause gebracht. Es ist nichts Besonderes dabei, einen Mann mitzubringen, aber Frau Charlotte lebt schon seit dreißig Jahren in diesem Haus, und nie hatte sie einen Mann mitgebracht. Sie wäre trotzdem nicht aufgefallen, wenn es einfach nur irgendein Mann gewesen wäre.
Frau Ruprecht aus dem Erdgeschoss ist dieser langhaarig bärtige bunte Vogel sofort ins Auge gefallen. Als Frau Charlotte den Mann zum ersten Mal mit in das Haus nimmt, putzt Frau Ruprecht gerade den Hausflur.
"Ist das Ihr Sohn?", vermutet Frau Ruprecht; der junge Mann mochte vielleicht fünfundzwanzig sein.
"Mein Anlageberater", antwortet Frau Charlotte.
"Ich habe in der letzten Woche achtzehn Millionen aus dem Lotto-Jackpot gewonnen; und die wollen angelegt sein."
Frau Ruprecht sieht sich den bunten Mann an und staunt. Anschließend hört sie aus Frau Charlottes Wohnung Stöhngeräusche, die mit einem lauten kreischenden Schrei enden. Frau Charlotte hat noch nie gestöhnt und geschrieen; deshalb sorgt sich Frau Ruprecht um sie. Eine Stunde später jedoch beobachtet Frau Ruprecht durch ihren Guckie, wie Frau Charlotte mit ihrem Anlageberater und einem glücklichen altjungfräulichen Kichern ihren Beobachtungskegel passiert.
Es fällt natürlich auf, als Frau Charlotte am nächsten Tage mit einem weißen Jaguar vor dem Haus aufkreuzt. Der Anlageberater steuert den Wagen. Sie bringen große Pakete in Frau Charlottes Wohnung. Anschließend stöhnt Frau Charlotte fast eine Stunden lang und beendet dieses wieder mit ihrem charakteristischen Schrei; sie verlässt wenig später mit dem Anlageberater das Haus. So geht das nun Tag um Tag über mehrere Wochen, und Frau Ruprecht sorgt sich nicht mehr, wenn Frau Charlotte stöhnt und schreit. Der Anlageberater verändert sein äußeres: er trägt die Haare fortan kurz und ist glatt rasiert; am hageren Körper trägt er einen exklusiven Nadelstreifen Anzug.
Eines Tages kommt Frau Charlotte nicht nach Hause, und sie kommt auch am nächsten oder übernächsten Tag nicht. Sie kommt überhaupt nicht mehr. Frau Ruprecht macht sich wieder Sorgen und telefoniert mit dem Hauseigentümer. Von ihm erfährt sie, dass Frau Charlotte die Miete für mehr als ein Jahr im Voraus bezahlt hat und in einer Immobilienangelegenheit in die Toskana gereist sei.
Tatsächlich sieht und hört man für mehr als zwei Jahre nichts von Frau Charlotte. Dann taucht sie plötzlich wieder auf. Sie wird mit einem Taxi vor dem Haus abgesetzt; Frau Ruprecht hat es vom Fenster aus beobachtet. Sie ist eine neugierige Frau, deshalb tut sie rasch so, als schaue sie im Hausbriefkasten nach Post. Als sie die Wohnungstür verlässt, kommt ihr eine heftig schluchzende Frau Charlotte entgegen. Eigentlich wollte Frau Ruprecht etwas anderes fragen, doch jetzt sagt sie:
"Was ist denn mit ihnen passiert, meine Gute?"
Frau Charlotte schaut Frau Ruprecht mit verweintem Gesicht an:
"Alle Männer sind Schweine";
sagt es und rennt die Treppe zu ihrer Wohnung hoch.
"Ich weiß", sagt Frau Ruprecht halb zu sich selbst.
Frau Charlotte sollte nie wieder in Begleitung eines Mannes gesehen werden. Fortan hört man Frau Charlotte jeden Tag zwischen elf und zwölf Uhr laut stöhnen. Pünktlich um zwölf beendet sie es mit einem lauten kreischenden Schrei.